die heilkraft des 

traditionellen griechischen tanzes

VON DER ANTIKE BIS HEUTE

02/11/2022

Savina & Thomas

Verfolgen wir den griechischen Tanz zurück zu seinem Ursprung im antiken Griechenland, so stellen wir fest, dass Tanz und Musik1 bei den alten Griechen Medizin zur Heilung von Körper und Seele waren. Diese Heilkraft wohnt dem griechischen Tanz seit jeher inne und hilft uns noch heute tanzend zu heilen. Die Heilkraft wirkt durch die unterschiedlichen Qualitäten der verschiedenen Tänze, deren Wirkung auf Körper, Geist und Seele sich uns offenbart, wenn wir uns nach und nach tiefer durchdringen lassen, uns öffnen und unser Bewusstsein und unsere Wahrnehmung schärfen. 

Daneben eröffnet sich uns die Heilkraft des Tanzes in der Bedeutung des Tanzkreises und ermöglicht uns Schritt für Schritt, Tanz für Tanz die Haltung im Tanz als eine „innere Haltung“ zu kultivieren. Diese innere Haltung stattet uns mit dem aus, was wir für unser tägliches Leben brauchen. Die Qualitäten der Tänze sind ebenso reichhaltig, wie die Zahl der tradierten Tänze und vermag für jeden Einzelnen von uns das Richtige bereitzuhalten. Das tranceähnliche und meditative Wesen vieler Tänze führt zu ganzheitlicher Entspannung und Katharsis. Organische und rhythmische Bewegungen verbinden uns mit den lebendigen Rhythmen der Natur. Durch die Aktivierung von Atmung und Stoffwechsel entsteht eine organische Kräftigung und Heilwirkung. Körper und Seele erhalten so im traditionellen griechischen Tanz immer wieder neu die Möglichkeit zur Selbstregulation.

Der Ursprung des Tanzes

Der Mythologie nach war es Rhea, die die Kunst des Tanzes zum ersten Mal den Kureten3 und Korybanten4 beibrachte. Rhea übergab ihren jüngsten Sohn Zeus an die Kureten aus Angst, sein Vater Kronos könne ihn verschlingen. Die Kureten versteckten Zeus und vollführten mit ihren Waffen eben jenen Tanz, den Rhea ihnen beigebracht hatte. Dadurch sollte das Weinen des Zeus übertönt werden, damit Kronos ihn nicht fände. Später wurden die Kureten dann Priester des Zeus und der Tanz wurde zu Ehren der Götter aufgeführt.

Auf Kreta gilt Überlieferungen zufolge der heute noch getanzte Anoghianos Pidhichtos als eine Form des in der Antike getanzten Tanzes der Kureten. Dem Mythos nach befindet sich die Höhle, in der Zeus versteckt wurde, unweit des Ortes Anoghia auf Kreta.

Ein historischer Rückblick zeigt zudem, dass der Tanz eine große kulturelle Bedeutung im täglichen Leben hatte. In der klassischen Epoche war die ideale Vorstellung eines Menschen, dass er nicht nur geistig, sondern auch körperlich kultiviert sei. Die Aufgabe des Tanzes wurde darin gesehen, eine Harmonie von Körper und Seele zu erzielen, die Körperstruktur harmonisch zu bilden und Bewegungsabläufe ästhetisch zu machen.5 So galt der Tanz als Ausdrucksmittel für das Selbstbewusstsein der Bürger eines Volkes.6

Der Tanz als Therapie im antiken Griechenland bis heute

Um den Tanz als Therapie in der Antike begreifen zu können, gibt der religiöse bzw. kultische Tanz sicher am meisten Aufschluss. Im Tanz nahmen die Menschen im antiken Griechenland Kontakt zu den Göttern auf. So fanden sie Erlösung, Verwandlung und Katharsis. Die Wirkung auf körperlicher, geistiger und seelischer Ebene entsprach ganzheitlicher Heilung.

Der reinigende und damit therapeutische Aspekt ist vorrangiges Merkmal der dionysischen Tänze. Diese orgiastischen Tänze wurden ausgeführt, um über einen tranceähnlichen Zustand schliesslich eine Transformation der Leiden zu erreichen. Der Dionysoskult7 kann somit heute als therapeutischer Prozess charakterisiert werden.

Verschiedene Forschungen8 belegen zudem, dass die Korybanten einen Tanz zur Heilung von Kranken kultiviert haben. Dabei unterzogen sich die Kranken zu ihrer Genesung dem Kult der Korybanten, indem sie mit dem Kranken oder um ihn herum tanzten.9 Ziel des korybantischen Ritus war die direkte Reinigung und spirituelle Stärkung.

Diese Betrachtungen lassen den Rückschluss zu, dass der Tanz im antiken Griechenland bewusst als therapeutisches Heilmittel eingesetzt wurde und als solches sogar recht verbreitet war.

Einige antike Riten haben sich bis heute - zuweilen unter anderem Namen - gehalten, so auch die Anastenaria.10 Viele Handlungen aus dem Ritual der Anastenaria scheinen aus dem der Korybanten hervorgegangen zu sein. Dabei darf die Rolle der Musik und des Tanzes als eine Art Tanztherapie charakterisiert werden.11

Alljährlich findet dieses Ereignis vom 21. bis 23. Mai in Makedonien und Thrakien zu Ehren der Heiligen Konstantinos und Helena statt. Höhepunkt und Hauptbestandteil des mehrtägigen Ritus ist der Tanz der barfüssigen Anastenarides auf glühenden Kohlen, ohne sich dabei zu verbrennen. Der Tanz dauert mehrere Stunden, bewirkt psychische Reinigung und wird Feuertanz12 genannt.

Die offensichtlichen Gemeinsamkeiten der antiken und traditionellen griechischen Tänze in Form und Ausführung belegen, dass der traditionelle Tanz in Griechenland eine historische Entwicklung und Fortsetzung von der Antike bis in die Moderne durchlaufen hat. Seine Anwendung im therapeutischen Kontext jedoch hat sich verändert. Während das antike Griechenland den Tanz neben seiner Rolle in Ausbildung und Unterhaltung auch zur Therapie anwendete, wird der traditionelle Tanz im modernen Griechenland nicht mehr gezielt therapeutisch eingesetzt. Er dient zwar durch seine zentrale Stellung bei diversen gesellschaftlichen Festen der Verbesserung der kollektiven Gesundheit, wird aber darüber hinaus nicht zur individuellen Therapie angewendet. Dies erklärt auch, warum der Begriff der Tanztherapie heute in Griechenland im Zusammenhang mit traditionellem Tanz nicht gebräuchlich ist.

Das Wesen der Tänze

Wollen wir das Wesen der Tänze erfassen, so sollten wir uns vergegenwärtigen, dass das antike Verständnis von Tanz sich sehr deutlich von unserem heutigen westlichen Tanzbegriff unterscheidet. Seinem Ursprung in der Antike nach, war das, was man als Tanz begriff, nicht beschränkt auf eine rhythmische Bewegung des Menschen, sondern erstreckte sich auf alle lebendigen Rhythmen der Natur. Dies bedeutet ein Verständnis der ganzen Natur, des ganzen Kosmos als tänzerisches Phänomen.

So finden wir Tanz in allen organischen und rhythmischen Bewegungen: 

im beständigen Kommen und Gehen der Wellen,

in der Atembewegung,

im Ausdehnen und Zusammenziehen des Herzens und seiner Pulsation,

im Wechsel der Jahreszeiten,

im Lauf der Gestirne auf ihrer Bahn,

in allen Lebenszyklen,

in jeglichem Entstehen und Vergehen,

im Flug und Zug der Vögel,

im Hauch des Windes,

im Flackern der Flammen, 

aber auch im Spiel eines Kindes, 

im Flechten eines Zopfes, 

im Kneten des Teiges.

Dieses antike Verständnis von Tanz bestimmt bis heute das Wesen der traditionellen griechischen Tänze. Es beeinflusst sowohl die Form und den Stil des jeweiligen Tanzes, als auch die Tänzer in ihrer Ausführung.

Die Interpretation der griechischen Tänze erfordert daher eine sehr vorsichtige und feinfühlige Herangehensweise, da sie bis heute ein kulturelles Erzeugnis der sich wandelnden griechischen Gesellschaft sind. So wird der Tanz nicht nur von der Struktur der Gesellschaft bestimmt, sondern auch vom Ort und den klimatischen Bedingungen seiner Herkunft. Sein Stil wird beeinflusst von den Sitten und Gebräuchen, der Geschichte und dem Leben der Menschen. Das Bewegungsspektrum eines Tänzers der Inseln ist ein anderes als das eines Tänzers vom Festland. Folglich unterscheidet sich das Wesen der Inseltänze ebenso vom Wesen der Festlandstänze. 

Die Inselbewohner leben in ständiger und unmittelbarer Konfrontation mit Meer und Wind. Diese kontinuierliche Begegnung mit den organischen Bewegungen von Meer und Wind findet ihren natürlichen Ausdruck in den Tänzen. Die Tänze des Festlandes hingegen stehen in enger Beziehung zur Erde und deren Kultivierung. Die tänzerischen Bewegungen sind der Erde zugetan, getragen und zuweilen ernst und bedächtig. Oft stehen Kraft und Kollektivität im Vordergrund.

Ebenso wie die Tänze entsprechen auch die Trachten den jeweiligen Orten und klimatischen Bedingungen und bestimmen ihrerseits die Bewegungen des Tänzers. Bunte und leichte Trachten der Inseln lassen Bewegungsfreiheit, schwere Trachten des bergigen Festlands fördern intensiven Ausdruck.

Daneben finden wir Tanz als Bewegung in Form des Ur-Labyrinthes. „Sehr vieles spricht für die Annahme“, dass sich das Ur-Labyrinth „zunächst als Gruppentanz manifestiert hat und dass die Tänzerkette die Wegbahnen nachgeschritten ist, die auch auf dem Täfelchen von Pylos dargestellt sind“.14 Dem Labyrinthtanz wird bis heute eine heilende Wirkung zugeschrieben und er gehörte schon im antiken Epidaurus als wichtiges Element zu den therapeutischen Anwendungen. In der Antike war der Labyrinthtanz als Labyrinthos, Geranos oder Kranichtanz bekannt und wurde erstmals bei Homer erwähnt.15 Nach Plutarch tanzte Theseus auf Delos den Geranos, den ihn Ariadne zuvor gelehrt hatte. Dora Stratou zufolge überlebte der Tanz Geranos bis heute unter dem Namen Tsakonikos.16

Der Tanzkreis

Die meisten griechischen Tänze in der Antike wurden kreisförmig - offen oder geschlossen getanzt.17 Der kreisförmige Tanz symbolisiert dabei den Kreislauf der Jahreszeiten, die lebendigen Rhythmen der Natur. Dieser zyklische Rhythmus wird im Tanz aufgenommen und vergegenwärtigt dem Menschen den zyklischen Rhythmus des Lebens.

Ebenfalls in der Antike finden wir zwei Rituale, bei denen die Kreisform eine besondere Bedeutung hatte. Zum einen wurde tanzend ein heiliges Objekt eingeschlossen, um seine Ausstrahlung auf sich wirken zu lassen. Zum anderen gab es die Bildung eines heiligen Kreises. Dabei zielte das Umkreisen der Person auf dessen Heilung im Sinne von Läuterung und Reinigung ab (wie beim o.g. Kult der Korybanten). 

Der Tanz als Therapeut

Abschließend mag festzuhalten sein, dass von einer Etablierung des Therapiebegriffes im zeitgenössischen Griechenland noch nicht die Rede sein kann. 

In einer Zeit, in der antike Vorbilder und Ideale der Vergangenheit angehören, sind wir aufgefordert in eigene Erfahrungsprozesse einzutauchen, um den traditionellen griechischen Tanz in einer neuen und damit gleichzeitig in seiner uralten therapeutischen Dimension und Tiefe erfahren zu können. 

Eine Gegenwart, die von Orientierungslosigkeit geprägt ist, in der die ganze Welt aus den Fugen zu geraten scheint, bedarf dieser Heilkraft vermutlich mehr denn je. Umso wichtiger scheint es, diesen uralten Schatz zu bergen, ihn wieder zu beleben und zu erneuern. 

Gleichzeitig verbinden wir uns mit unseren europäischen Wurzeln, die uns Halt und Orientierung geben und aus denen heraus wir heute und in Zukunft wachsen, uns entwickeln und entfalten können. Diese Entwicklung gibt uns die Möglichkeit, an den Ursprung der europäischen Kultur, ihre Tugenden und Werte anzuknüpfen, sie tanzend zu verinnerlichen und zu verteidigen in Zeiten, in denen sie offen angegriffen werden.

Indem wir uns Schritt für Schritt der Heilkraft der getanzten Tradition öffnen, können wir Tanz für Tanz all jene Weisheiten sammeln, die die Tänze für uns bereithalten. Alles was es braucht, ist das Vertrauen, dass alles schon da ist und sich uns, sofern unsere Absicht wahrhaftig ist, im Tanz offenbart.

Dann vermag der traditionelle griechische Tanz über den Körper unsere Seele zu berühren und die Begrenzungen des Geistes zu überwinden. Damit wir heil und ganz sind, bleiben oder werden.



Fußnoten

1 Im Weiteren wird unter dem Begriff Tanz immer die untrennbare Einheit von Tanz und Musik verstanden.

2 Günther/Schäfer, Vom Schamanentanz zur Rumba, S. 15

3 Kureten waren Dämonen der griechischen Mythologie; sie wurden in Phrygien und auf Kreta verehrt.

4 Korybanten waren Vegetationsdämonen und orgiastische Ritualtänzer und Begleiter der großen Göttermutter Kybele

5 Klein, FrauenKörperTanz, S. 27

6 Calendoli, Tanz, S. 27

7 Dionysos, Gott der Weines, der Fruchtbarkeit, der Ekstase und vor allem der Wandlung, wurde auch Lysios oder Lyäos genannt (=Löser, weil er die Bitterkeiten und Sorgen der Menschen löste)

8 Dodds: The Greeks and the Irrational; Lawler: Dance in Ancient Greece; Calendoli, Tanz

9 Calendoli, Tanz S. 33

10 Das Wort Anastenária (αναστενάρια) stammt vom Verb anastenáso (αναστενάζω) ab und bedeutet seufzen oder stöhnen. Es ist darauf zurückzuführen, dass die Tänzer während des Ritus seufzen.

11 „Die American Dance Therapy Association (ADTA) ,…, bezeichnet Tanztherapie als die psychotherapeutische Verwendung von Bewegung als Prozess, der die emotionale und psychische Integration des Individuums zum Ziel hat“ (Klein, P.: Tanztherapie, S. 17)

12 πυροβασία

13 Mouratidou, Griechische Tänze, S. 23

14 Fröschl, Die heilende Kraft des Labyrinths, S. 9; Kern, Labyrinthe S. 18

15 Homer, Ilias, XVIII 590-602

16 Stratou, Λαϊκοί χοροί, S. 20f.

17 Bereits Homer beschreibt den Tanz der Jünglinge als kreisförmig, Ilias XVIII. Gesang, 494



Quellenangaben 

Calendoli, Giovanni

Tanz (Kult, Rhythmus, Kunst). G. Westermann Verlag. Braunschweig 1986

Dodds, E. R.

The Greeks and the Irrational. University of California Press. 2nd Revised edition. Berkley and Los Angeles 2004

Fröschl, Monika

Die heilende Kraft des Labyrinths. Don Bosco, München 2005

Günther, Helmuth/Schäfer Helmuth

Vom Schamanentanz zur Rumba. Die Geschichte des Gesellschaftstanzes. 2. Aufl.. Fritz Irland Verlag. Stuttgart 1975

Homer

Ilias, Übersetzung Roland Hampe. Philipp Reclam jun. Stuttgart 1979

Kern, Hermann

Labyrinthe. Erscheinungsformen und Deutungen. 5000 Jahre Gegenwart eines Urbilds, Prestel Verlag, München 1999

Klein, Gabriele 

FrauenKörperTanz. Eine Zivilisationsgeschichte des Tanzes. Quadriga Verlag. Weinheim/Berlin 1992

Klein, Petra

Tanztherapie. Eine einführende Betrachtung im Vergleich mit konzentrativer- und integrativer Bewegungstherapie. Eures Edition, Bremen 1988

Lawler, B. Lillian

The Dance in Ancient Greece. Adams and Charles Black Verlag. London 1964

Mouratidou, Ekaterini

Griechische Tänze. Eine historische und tanzpsychologische exemplarische Studie. SPORT und BUCH Strauß Edition Sport. Köln 1995

Plutarch

Theseus. Übersetzung Konrat Ziegler. Artemis Verlag. 2. Aufl. München, Zürich 1979

Stratou, Dora

Οί λαϊκοί χοροί. Ενας ζωντανός δεσμός με το παρελθόν (Greek Dances - Our Living Link With Antiquity).  Athen 1966

Es ist das Wesen des Tanzes, das Verwandlung bringt.

Es ist das Wesen des Tanzes, das Verwandlung bringt.

„Im Tanz kehrt der Mensch heim zu seinem eigentlichen göttlichen Wesen. Er befreit sich von allen äußeren Einflüssen, wird ganz er selbst… Tanzend erlebt er die Tiefe seines Ichs, verknüpft sein Leben mit der Welt, dem All, der Gottheit. Tanzend fühlt er sich als Teil des Kosmos…“2

Überall, wo wir Rhythmus und Bewegung finden, ist Tanz.

Das Leben ist Tanz!

„Im Tanz empfindet sich der Mensch als Teil des Kosmos“13

Tief verwurzelt in der Tradition macht der traditionelle griechische Tanz offen, lebendig und weit in der Gegenwart.

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